timanfaya - 20. Apr, 16:20

konvention sollte sicherlich nicht der antrieb sein. ich bin leider schon seit meiner schulzeit sowas wie ein beerdigungsprofi, insbesondere in meinem freundeskreis. es gibt, sehr vereinfacht, genau zwei sehr unterschiedliche varianten ...

wenn man nicht hingeht, ist es so, als wäre jemand nach amerika ausgewandert. ganz weit weg, irgendwo im tiefsten north dakota. unerreichbar. weg. derjenige fehlt, aber es fehlt der eindeutige der abschluss. ein enges familienmitglid von mir wollte anonym beerdigt werden. es ist inzwischen mehr als 10 jahre her, aber gefühlsmäßig habe ich das nie realisiert. ganz seltsames ding, recht emotionlos. als wäre nichts passiert.

das gegenbeispiel dazu ist drama pur. wenn man wieder einmal einen guten freund viel zu jung verliert. und einer der träger ist, weil es sich seine mutter so wünschte. vor hunderten von menschen. irrwitzge mehrere hundert meter weit. das ist moll³. ich habe diesen ort nie wieder betreten. und werde es auch nie tun. weil ich ihn nie vergessen werde. durch sein leben. und auch durch diesen einen tag des abschieds.

brittbee - 20. Apr, 18:43

Hallo Timanfaya,
in meinem Umfeld sind auch schon zu viele Menschen gegangen. Routine gibt es trotzdem nicht, ich dachte man gewöhnt sich an alles?

Ich brauche kein Zeremoniell, zumindest nicht dieser Art, um mich von einem geliebten Menschen zu verabschieden. Aber wenn man es braucht ist eine anonyme Beerdigung wirklich grausam, das tut mir leid für Dich. Aber jeder kann wählen, wie er geht, wann er geht gelegentlich auch. Müssen wir akzeptieren. Und weitermachen. Aber so weitermachen, wie wir es ertragen. Ich weiss mittlerweile, dass ich zwei Jahre brauche, um es überhaupt zu kapieren. Und dann langsam kann ich mich lösen. Danke-B.
g a g a - 20. Apr, 21:11

ich bin auch für riten

aber es müssen nicht immer die sein, die jeder erwartet. da gibt es keine gesetze und empfehlungen. ich werde wütend, wenn mir jemand sagen will, man müsste den sarg gesehen haben (den es so nicht gab - die ddr hat seinen körper eingeäschert und ein urne geschickt) oder gar den leichnam. das ist eine ungeheure anmaßung. jeder tod ist anders. ich möchte kein unfallopfer sehen. nicht die verletzungen. das thema hat gewicht in meinem leben. ich war bei meinem großvater, als er starb, hielt seine hand. es gibt gute rituale. auch aufbahrung kann sehr würdevoll und wichtig sein. aber nicht immer, nicht in jedem fall. (ich scheute neben meiner schlechten verfassung damals die ganze inszenierung, ein begräbnis mit der rede eines pfarrers, der ihn nur als jungen kannte, nicht als erwachsenen mann, ich hatte angst vor musik, die er nicht gewollt hätte. ich ließ mir erzählen, wie viele freunde da waren. alle in schwarzem leder. das war mir trost. aber ich war innerlich auf der intensivstation, fassungslos, völlig gelähmt. und was für ein glück: meine armen eltern haben es verstanden. meine arme mutter, der ich im schwersten moment meines bisherigen lebens, am telefon die todesnachricht überbringen musste, hat es so gut verstanden. das war mir trost. weil sie wusste, wie eng wir verbunden waren.
brittbee - 21. Apr, 17:20

Liebe Gaga,
gerade weil jeder Tod anders ist, ist sicher jede Trauer anders. Unverständnis kommt von denen, die wirklich nicht verstehen. Eine Erfahrung wie Du mit Deinem Großvater habe ich noch nie gemacht. Noch nie ging jemand aus meinem Leben, weil er alt war. Und Zeit zum vorher Abschied nehmen hatte ich auch nie. Wie schön. Der Tod Deines Bruders geht mir wirklich unter die Haut. Du erzählst es so ergreifend. Mich ergreift es. Noch dazu die brutale Ost-Bürokratie. Wirklich grausam. Aber aus dem Handeln Deiner Eltern spricht große Liebe und riesiges Vertrauen in Deine Entscheidung. Da können einem die Konventionen erst recht Wurscht sein.

Mich machen diese Benimmregeln auch wütend. Jeder muss es selbst herausfinden. Ich habe meine Formel noch nicht gefunden. Außer vielleicht, dass ich irgendwann ziemlich wütend auf den Verstorbenen werde. Und dann meist 2 Jahre ins Land gehen müssen. Als sich ein Kind war, hat mein Vater gelegentlich eine Reinhard-Mey-Platte gezückt, in dem dieser von seinem Testament singt. Es heißt „Mein letzter Wille“, kennst Du es? Toller Text. So will ich’s haben.

Ich habe mal ein Jahr auf Madagaskar gelebt, und dort beerdigt man die Toten in einer drei Tage andauernden Zeremonie, der famadihana. Sie ist total skurril, aber auch sehr bunt und ein großes Gelage. Man verknüpft es mit einem Ritual, was die Ahnen der Familie mit einbezieht.

Erst trifft sich die ganze Famlie und jeder der Lust hat und man schlachtet die Rinder desjenigen, der verstorben ist- wenn er denn welche hatte. Daraus wird dann bret mafan gekocht, das Nationalgericht. Die Frauen tanzen den ganzen Tag und es wird Musik auf Trommeln, Klarinetten und Valihas, einer Art Harfe, gespielt.

Am zweiten Tag ruft die Dorfweise, die es in jedem Dorf gibt, auf dem Grabmal der Familie stehend die Geister an und nennt die Namen der Toten, die am folgenden Tag exhumiert werden. Den ganzen Tag und die Nacht hindurch wird getanzt und Rum getrunken.

So beginnt die eigentliche Zeremonie in einem Zustand von Ekstase
Für die Madagassen ist das Grab ist ein Konzentrationspunkt von Energie und Macht der Ahnen. So kann jemandem ein Finger abfallen, wenn er auf ein Grab zeigt. (Daher krümmen die Madagassen immer ihren Zeigefinger, wenn sie in die Ferne zeigen: es könnte sich ja irgendwo ein Grab befinden.) Die Verwandten ziehen singend und begleitet vom Orchester zum Grab. Man hält immer wieder und liest überall auf dem Weg ein paar Freunde auf. Junge Männer schaufeln die Erde vom Grab. In ihr sind magische Objekte verborgen, die später wieder eingegraben werden. Beispielsweise ein geschlossenes Vorhängeschloss, das bewirkt, dass die Geister dem Grab nicht entfliehen können.

Auf dem Grab steht das Organisationskomitee, das jeweils laut ausruft, welcher Tote nun aus dem Grab getragen wird. Die Skelette werden den Frauen übergeben, die sie auf den Schultern tragen und tanzen. Die weiblichen Verwandten des jüngst Verstorbenen müssen die Knochen berühren, weil Frauen als Träger der Emotion gesehen werden. Durch ihre Berührung bestätigen sie das Band der Verwandtschaft. Man darf dabei nicht weinen, alle müssen fröhlich und ausgelassen sein. Aber meist muss auch niemand weinen, denn es herrscht eine heitere Atmosphäre.

Nach den Berührungen werden die Knochen mit der Lamba, ein Kleidungsstück ähnlich dem Sari umwickeln. Die Qualität der Lamba ist unterschiedlich und hängt vom Reichtum der Familie ab. Dann werden die neu gewickelten Bündel von den Frauen auf den Schultern siebenmal um das Grab getragen. Die Furcht ist verschwunden, die Bündel werden sogar in die Luft geworfen und anschließend wieder ins Grab geschafft. Zum Schluss wird der Mensch, der jüngst verstorben ist, ins Grab getragen.

Die famadihana ist ein farbenfrohes Ereignis, alt und jung nehmen daran teil. Ich war mehrere Male dabei und fand es ganz toll. Das ist natürlich nicht auf unseren Kulturkreis übertragbar, aber mir hat besonders die Musik dabei so gut gefallen, dass ich mich dazu entschlossen habe, an Olafs Grab zu lärmen. Es war wirklich so gut.

Was für ein Monolog! Ob Du das wohl liest? Alles Liebe–B.
g a g a - 21. Apr, 18:29

und ob ich den gelesen habe

ich bin sehr beeindruckt und gerührt von deiner erzählung und der ritualkultur dieser ahnenreligionen. wieviel du schon von der welt gesehen hast... ich sah eine dokumentation über das knochenfest (mir fällt der authentische spanische name jetzt nicht ein), das in havanna gefeiert wird, wo auch die knochen nach einem bestimmten zeitraum der verwesung ausgegraben, gereinigt und umgebettet werden. da gab es diese letzte einstellung eines alten mannes, der die gereinigten gebeine seiner etwa sieben jahre zuvor verstorbenen frau eigenhändig in einen weißen steinernen kasten umbettete, in weißes leinen eingeschlagen. wie eine rückblende dazwischen geschnitten vergilbte schwarzweiß fotos der einstmals jungen schönen frau, seiner großen liebe. mit welcher zartheit und mit welchen tränen er diese knochen liebkoste ist mir unvergesslich. und dann die letzte einstellung, die steinerne truhe in einer hohen nische in einem geschützten raum auf dem friedhof, neben vielen anderen steinkästen. und zwischen den deckel geschoben, eine rosa blüte für seine unvergessene liebe.

es gibt so eine tiefe sehnsucht nach einer leidenschaftlicheren kultur als der, die in unserem kulturkreis heutzutage heimisch ist. ich glaube, vor sehr langer zeit gab es auch in unseren breitengraden vergleichbare archaische kulte - aber die relikte finden wir heute nur noch in den museen für vor- und frühgeschichte und in unserer phantasie. ein fest für die toten und die lebenden, gemeinsam. was will man noch mehr. in dieser tradition verstehe ich auch, was du mit deinen freunden am grab getan hast. man muß freundschaft schließen, mit diesem teil unserer existenz, den grusel vertreiben. menschen wie du schaffen das.

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