14
Nov
2005

Verkommene Brut

In jeder Kleinstadt gibt es diese eine verrufene Familie. In meiner Kleinstadt waren´s die Kuhns. Fünf, sechs Orgelpfeifen, ich weiß gar nicht, wie viele, Sozialhilfe-Adel in der 3. Generation. Die Lehrer rollten die Augen vor dem Lumpenpack, der verkommenen Sippe. Wenn irgendwer in der Grundschule Masern, Mumps oder Läuse anschleppte, wenn etwas geklaut war, dann waren´s die Kuhns. Zumindest wurde behauptet, dass es die Kuhns waren.

Erstaunlich war, wie ausgesprochen gut aussehend alle Kinder waren. Nein, das wäre untertrieben: schön waren sie. Das konnten selbst die dreckigen Klamotten nicht verbergen.
Meine Mutter meinte, das hätten sie den mütterlichen Genen zu verdanken. Bevor der Vater zu prügeln begann und der Alkohol und überhaupt das Leben jede Andeutung von Schönheit zerstörten, „da war die Ilona eine niedersächsische Rachel Welch“. Damals vermutlich das ultimative Kompliment. Den väterlichen Genen konnte diese Attraktivität nicht zuzuordnen sein, denn der hatte seine DNA großzügig über den ganzen Landkreis gestreut und die restlichen Produkte sahen eher, nun, degeneriert aus.

Ich mochte den einzigen Sohn, Christian, sehr gern. Zum einen wegen seiner intensiven Art, seines Humors und dieser Freibeuter-Lauselocken. Und zum anderen weil er wusste, wie man mit einem Feuerzeug in zwei Minuten einen Kaugummiautomaten knackt und mit Enteiser in 1 Minute ein Fahrradschloss. Und genau so gern kokelte wie ich. Meine Mutter hat mir nie den Umgang verboten, aber ich weiß sie hätte gern. Stattdessen hat sie ihn immer zum Essen eingeladen und ihm mal fünf Mark zugesteckt. Alle wussten ja, dass die Kuhns chancenlose arme Würmchen waren. Da wog das Mitleid mehr als die Angst vor einer verlausten Tochter.

Vorhin habe ich eine alte Mailadresse gecheckt, die ich nie benutze. Sie steht im Onlineverzeichnis meiner Heimatstadt. Und da war Post von eben jenem Christian, der nach mir gesucht hatte. Ich habe sofort zum Hörer gegriffen und ihn angerufen. Und was soll ich sagen: der Junge ist seinen Weg gegangen. Lebt in Paris. Hat einen super Job im Kreativ-Team eines sehr erfolgreichen Designers. Hat sich alles hart erarbeitet, Abendschule, Abi, Studium. Ist mit einer Französin verheiratet und hat drei Kinder.

Ich habe mich schon lange nicht mehr so mit jemandem gefreut. Nun muss ich wohl doch mal wieder nach Paris, trotz aller Frankreich-Phobien.

Fin

Montag

"Though this be madness, yet there is method in it"
aus W. Shakespeares "Hamlet"

Kann ich bitte jetzt sofort in Rente gehen?
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Die Spreepiratin

Unterwegs in stürmischen Stadtgewässern
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